Erster (“Schulmedizin”) und zweiter Gesundheitsmarkt (“Komplementärmedizin”, “Medical Wellness”) unterscheiden sich, glauben viele Vertreter im System der gesetzlichen Krankenkassen, durch die besonders hohe Effizienz des ersten Gesundheitsmarktes. Doch weit gefehlt, weiß unter anderem der Radiologe Prof. Dr. med. Werner Golder (Avignon, Frankreich). In einem im Fachblatt „Nervenarzt“ publizierten Kommentar kritisiert er die angebliche „Schatzkammer“ der mit radiologischem Bildmaterial reichlich beladenen digitalen Datenträgern, die heute oft jedem Befund beiliegen. Diese CDs oder DVDs können nur dann wirklich eine Bereicherung sein, so Golder, wenn man sie unkompliziert öffnen, das Gesuchte rasch finden und die Fundstücke ohne Zeitverzögerung in Augenschein nehmen kann. Gerade dabei aber hakt es immer noch und immer wieder — gerade auch bei der Gegenüberstellung der Radiogramme mit den Ergebnissen der klinischen Untersuchungen sowie im Rahmen von Begutachtungen.
Von dem unmittelbaren Zugriff auf die Bildinformationen, wie man ihn bei der einfachen Röntgentüte vergangener Zeiten noch hatte, ist man jedenfalls in digitalen Zeiten weit entfernt. Der Griff nach den „analogen“ Bildern dauerte jedenfalls in der Regel weniger lange als deren Betrachtung und Beurteilung, erinnert sich Golder. Heute sind die Anlaufzeiten länger — manchmal sogar viel länger. Da schiebt man die CD/DVD in den Laptop, wartet unterschiedlich lange, bis sie vom jeweiligen DICOM-Viewer (Software zum Anschauen digitaler Röntgenbefunde) erkannt und geräuschvoll inkorporiert worden ist, bis man aufgefordert wird, sie zu öffnen, bis man an die Übersichtsdarstellung der gespeicherten Bilddateien gelangt und das Angebot bekommt, diese in beliebiger Reihenfolge zu öffnen. Und wenn dann das Anzeigeprogramm noch eine Oberfläche und Bedienung hat, mit denen man noch nicht vertraut ist, verstreicht noch mehr Zeit. Nach Golders sehr groben, aber wohl nicht ganz unzutreffenden Schätzung und unter Berücksichtigung seiner eigenen Erfahrungen bleibt mindestens jede zweite CD/DVD, die radiologische Daten trägt, ungeöffnet und damit unbeachtet in den Akten liegen. „Was für ein Defizit auf dem Weg zur Fachinformation!“ bedauert Golder, „was für ein Verzicht auf eigenständige Beurteilung des Bildmaterials! Was für ein intellektueller Verlust!“
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Eichstädt bei Berlin, 20. Juli 2023.
Bildnachweis
• Owen Beard (unsplash.com, DK8jXx1B-1c).
Quelle
• Golder WA: Die Bilder springen nicht in die Augen. Nervenarzt. 2023 Jul 14 (DOI 10.1007/s00115-023–01527‑y).